Vergebung und Versöhnung: Die Heilung von Beziehungen

In meiner Mediationspraxis begleitete ich in den letzten Jahren öfters Mehrgenerationenkonflikte – meistens zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern – dies in unterschiedlicher Konstellation. Dabei stelle ich immer wieder fest, dass bei diesen Mediationen die Komplexität menschlicher Interaktionen und Biografien eine zentrale Rolle spielt. Im Zentrum geht es oft um emotionale Prozesse der Vergebung und Versöhnung. Diese beiden Konzepte sind eng miteinander verbunden und haben tiefe Auswirkungen auf die individuelle Lebensqualität sowie das aktuelle wie zukünftige familiäre Miteinander.  In diesem Aufsatz werde ich die Bedeutung von Vergebung und Versöhnung im Rahmen einer Mediation erläutern und ihre Rolle bei der «Heilung» von Beziehungen diskutieren.

Mediation und Heilung

Heilung ist wohl ein Konstrukt, das in mediativen Verfahren eher ungewöhnlich ist und sicher mehr therapeutischen Verfahren zugeordnet wird. Dennoch ist gerade in Mehrgenerationenkonflikten von grosser Bedeutung, dass ein innerer Heilungsprozess angestossen werden kann, damit eine zukünftige und bessere Beziehungsgestaltung tatsächlich möglich wird. Die meisten Mediand:innen kommen mit dem allgemein formulierten Ziel einer «verbesserten Kommunikation» zu mir in die Mediation. Die Kommunikation wurde bisher z.B. nur rudimentär geführt. Es sind versteckte Botschaften darin enthalten. Oder jedes Mal, wenn man sich trifft, entsteht eine schlechte Stimmung, alte Geschichten und biografische Verletzungen prägen die Kommunikation etc. Die Mediand:innen möchten mit mir als Prozessbegleiter einen neuen Weg der Kommunikation und insbesondere des Miteinanders finden. Dabei steht weniger eine eigentliche Mediationsvereinbarung des zukünftigen Miteinanders im Vordergrund als oft vielmehr eine aktive Versöhnung. Zu erkennen, dass die aktuell unbefriedigende Kommunikation erst verbessert wird, wenn beide Parteien sich mit ihren persönlichen biografischen Wunden und ihrer Beziehungsgeschichte auseinandersetzen, ist dabei ein zentraler Schlüssel.

Vergebung als Weg zur inneren Freiheit

Einer der zentralen Schlüssel ist dabei die Vergebung als ein Akt des Loslassens von Groll, Wut und Ressentiments gegenüber einer Person, die uns verletzt hat. Die Kommunikation wird oft deshalb als schwierig und unbefriedigend wahrgenommen, weil sie immer wieder durch alte Beziehungsgeschichten (auf der Beziehungs- und Appellebene) belastet wird. Dies zu erkennen und sich auf den Prozess der Vergebung einzulassen, wirkt, auch wenn dies oft hochemotional ist und von beiden Seiten ausgehalten werden muss, für beide Mediand;innen befreiend. Wenn Vergebung gelingt, befreien sich die Mediand:innen von der Last negativer Emotionen. Es ermöglicht sich selbst, inneren Frieden zu finden und so destruktive Kommunikationsmuster zu durchbrechen und das Gegenüber besser zu verstehen. So erhält auch das Vis-à-Vis die Möglichkeit, seine Kommunikationsmuster zu reflektieren und allenfalls zu ändern.

Vergebung ist jedoch kein einfacher Schritt. Sie erfordert Mut, Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, sich verletzlich zu zeigen. Manchmal bedeutet Vergebung nicht, dass das, was passiert ist, akzeptiert oder vergessen wird, sondern vielmehr, dass man sich entscheidet, nicht länger von vergangenen Verletzungen kontrolliert zu werden.

Meine Rolle als Mediator in diesem Teil des Mediationsprozesses ist das achtsame Begleiten im Sinne der Steuerung der Kommunikation, des Begrenzens von Verletzungen (keine Abwertungen), des Achtens auf bedürfnisorientierte Ich-Kommunikation. Diese Mediationsphase findet oft zwischen der zweiten und vierten Besprechung statt.

Versöhnung als Wiederherstellung oder Neuausrichtung von Beziehungen

Die Mediation zielt als Instrument zur Bearbeitung von Konflikten stets auf die Gegenwart und insbesondere auf die Zukunft. Es soll in Mehrgenerationenkonflikten mit gezielten Fragen, Anregungen etc. eine Basis geschaffen werden, welche bessere zukünftige familiäre Beziehungen ermöglichen. Im optimalen Fall wird diese Basis verschriftlicht in einer Mediationsvereinbarung. Ob schriftlich oder nicht ist dabei weniger entscheidend, als dass die Lösungssuche letztlich ein Akt der Versöhnung ist. Die Mediand:innen fühlen sich einander verbunden, möchten eine Beziehung pflegen, zeigen sich von ihrer verletzlichen Seite, ringen nach dem für sie stimmigen Weg. Dies gelingt nur, wenn die Vergangenheit ein Stück weit ruhen gelassen werden und so eine Versöhnung gelingen kann. Versöhnung geht über Vergebung hinaus, ist viel stärker ein interaktionaler Prozess zwischen den Mediand:innen und beinhaltet die Wiederherstellung oder Stärkung von Beziehungen nach emotionalen Verletzungen. Sie ist ein Prozess der Annäherung, des Verständnisses und des Wiederaufbaus von Vertrauen. Versöhnung erfordert oft einen offenen Dialog, in dem beide Mediand:innen mitteilen, was sie sich vom Andern wünschen, was sie selbst für eine gelingende Beziehung beizutragen gewillt sind und wo auch gewisse Grenzen liegen. Dieser Weg ist Bestandteil der zweiten Phase der Mediation zwischen der vierten und ca. sechsten (und letzten) Besprechung.

Der Weg zur Versöhnung kann langwierig sein und Geduld erfordern. Die Mediation ist dabei oft das erste Mosaiksteinchen. Der Weg für die Mediand:innen geht nach den ersten Schritten und der Beendigung einer Mediation weiter. Er erfordert die Fähigkeit, Empathie für den Standpunkt des anderen zu entwickeln und gemeinsam Lösungen zu finden, um die Beziehung zu reparieren. Versöhnung bedeutet nicht, dass vergangene Fehler ignoriert und grundsätzlich nicht mehr gesehen werden, sondern dass man bereit ist, über sie hinwegzusehen und gemeinsam nach vorne zu schauen. Gemäss meiner Erfahrung kann der Prozess der Mediation den Versöhnungsprozess oft anstossen. Die Gestaltung der weiteren zukünftigen Beziehung liegt jedoch ausserhalb meines Einflusses. Auch wenn es nicht immer zu einer expliziten Vereinbarung der zukünftigen Beziehungsgestaltung in dieser Art von Mediation kommt, so wurde doch stets die intergenerationelle Beziehung klarer. Es wird benannt, was geschehen ist, was gewünscht wird und was möglich sein soll und kann.

Die transformative Kraft von Vergebung und Versöhnung

Als Letztes möchte ich noch erwähnen, dass Vergebung und Versöhnung letztlich die transformative Kraft besitzen, nicht nur mehrgenerationelle Eltern-Kind- Beziehungen umzugestalten, sondern auch gesellschaftliche und zwischenstaatliche Konflikte und Krisen zu überwinden. In interkulturellen und interreligiösen Gemeinschaften und Staaten, die von gegenseitigem Groll und Ressentiments geprägt sind, ist Vergebung und Versöhnung der einzig erfolgversprechende Weg zu einem friedlicheren und harmonischeren Zusammenleben. Gerade in hochkonfliktiven Gebieten wie dem Gaza-Streifen oder in der Ukraine führt kein Weg an der Kraft der Vergebung und Versöhnung vorbei. Der Akt der totalen Zerstörung und Vernichtung kann längerfristig wohl nie ein Weg zum friedlichen Miteinander sein.

Vergebung als mehr innerer Weg und Versöhnung als aktiver Prozess des Miteinanders erfordern nicht nur Mut und Entschlossenheit, sondern viel Mitgefühl und Großzügigkeit, was leider in den aktuellen Konfliktregionen sicher zu wenig vorhanden ist. Letztendlich liegt in der Vergebung und Versöhnung meine Hoffnung auf eine Welt, in der Frieden und Harmonie die Oberhand gewinnen.

Roger Sennhauser, im Mai 2024

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